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Die Schriftstellerin Herta Müller entstammt der deutschsprachigen Minderheit in Rumänien. In ihren Werken beschäftigt sie sich kritisch sowohl mit dem latenten Gewaltpotential, das dem Alltagsleben der deutschen Minderheitengemeinschaft Rumäniens eigen ist als auch mit der offenen Brutalität der damaligen rumänischen Diktatur. Dabei bedient sie sich einer spezifischen Darstellungstechnik, die sie selbst mit dem Begriff der 'erfundenen Wahrnehmung' charakterisiert und durch die sie zu einer der bedeutendsten Gestalten der modernen deutschen Literatur avanciert ist. Um zu einem Verständnis der Grundgedanken der Narrativik Müllers, insbesondere ihres Konzepts der 'erfundenen Wahrnehmung' zu gelangen, muss zunächst ihr Wahrnehmungsbegriff geklärt werden. Dieser Prozess, der sich abspielt zwischen Objekt und Subjekt der sinnlichen Wahrnehmung, wird in der Regel als eine Vorstufe oder Vorbedingung der Erkenntnis betrachtet. Müllers Konzeption des Wahrnehmungsbegriffs geht jedoch darüber hinaus, indem er den Wahrnehmungsprozess stärker in den Blick nimmt. Demnach bildet die Wahrnehmung eine Reaktion auf die wahrgenommenen Objekte und muss statt als (passives) Ereignis objektiven Charakters als subjektiv unternommene Aktivität verstanden werden. Dabei lassen sich jedoch Subjekt und Objekt ebensowenig klar voneinander scheiden wie aktive bzw. passive Beteiligung. Auf diesen Zusammenhang spielt der Begriff der 'erfundenen Wahrnehmung' an. Bezogen auf ihr Schreiben bildet dieser Begriff eine Charakterisierung ihrer Darstellungsstrategie, mit deren Hilfe es ihr trotz der täglich erlebten, das Schreiben verunmöglichenden Repression gelingt, die Arbeit an ihren Werken fortzusetzen, indem sie in ihnen die Reflexion eben dieser Realität betreibt. Unter Anwendung des Prinzips der 'erfundenen Warhnehmung' arbeitet Müller mit zahlreichen wahrgenommenen Bildern, die als Teile ihrer autobiografischen Erfahrung im Gedächtnis mit dem 'Zeigefinger im Kopf' haften, und die dann in geschriebene Ausdrücke transformiert werden. Die Beschreibungen, die während dieser Transformationsarbeit entstehen, sind dabei geprägt von der ständigen Spannung zwischen Verbergen und Offenlegen. Unter diesen Bedingungen geschaffen, fließ́́en Müllers Werke von lyrischen Momenten über. Die in ihren Werken als Mittel der Darstellung von 'erfundener Wahrnehmung' ins Werk gesetzten Erzähltechniken wie Parallelstruktur, Aussparung und Riß, Kondensierung und rhythmische Isochronie, Sachlichkeit und Farbensymbolik geben allen ihren Werken eine spezifische lyrische Faktur, die schließlich in einen irrational(istisch)en Realismus mündet. Rassismus, Sexismus, Generationskonflikte, politische Repression - alles das wird in ihren Werken zum Ausdruck gebracht, jedoch nicht in direkter Weise, sondern durch indirekte Formen der Darstellung entsprechend dem Konzept der 'erfundenen Wahrnehmung'.