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Der Findling wurde erstmals 1811 im 2. Band der Erzählungen Heinrich von Kleists veröffentlicht und zählt zu seinen späteren Novellen. Unter anderem auf Grund von Brüchen, Widersprüchen und Inkongruenzen in Inhalt und Form der Novelle und wenig psychologischer Motivierung der Handlung wurde früher die Frühdatierung des Textes oftmals versucht. Sie hat sich aber vor allem durch die historisch-kritische, philologisch editionstechnische Detailarbeit Hans Joachim Kreutzers als nicht haltbar erwiesen. Auf den ersten Blick scheint die Novelle nichts weiter als ein Stück trivialer Schauerliteratur aus der Zeit um 1800 zu sein. Dafür sprechen die zahlreichen intertextuellen Bezüge zu dem damals bekanntesten Unterhaltungsroman The Monk von Matthew G. Lewis aus dem Jahr 1796. Insbesondere die Inzest-Motivik verweist auf diesen Zusammenhang. Man könnte jedoch auch von der Annahme ausgehen, dass Der Findling eine höchst artifizielle und genau kalkulierte Erzählung ist und Kleist im Medium der Novelle gegen die narrativen und ideellen Normen der damaligen Erzählliteratur opponierte. In der Forschungsgeschichte zur Novelle wurde Nicolo über lange Zeit als Verkörperung des ‘absolut Bösen’ angesehen. Zudem hat man versucht, Nicolos Verhalten wenn nicht zu rechtfertigen so doch zu erklären. Es wurde argumentiert, dass er von seinen Adoptiveltern nicht um seiner selbst willen angenommen wird, sondern dass er von Beginn an nur die Funktion eines ‘Stellvertreters’ innehat, der niemals eine eigene Identität entwickeln kann. Beide Beurteilungen Nicolos lassen sich bis zu einem gewissen Grad aus dem Text heraus entwickeln, aber beide Thesen sind nicht wirklich überzeugend. Diese alternativen Deutungen nehmen gemeinsam still- schweigend an, dass sich Der Findling nach traditionellen Erzählnormen ausrichtet und dass vor allem die Instanz des Erzählers zuverlässig sei, was aber in der Tat nicht der Fall ist. Der Erzähler in den Novellen Heinrich von Kleists ist nämlich unzuverlässig, wie eine Reihe wichtiger Kleistforscher mit Bezug auf seine poetische Verfahren wiederholt belegt haben. Damit ist auch seinen Urteilen und Wertungen der Figuren nicht zu vertrauen, was schließlich ein endgültiges Verstehen des Werks prinzipiell unmöglich macht. Der Findling Kleists ist gerade ein Paradebeispiel für die Novelle mit einer so unzuverlässigen Erzählerinstanz. Mit dieser Gestalt eines ‘unzuverlässigen Erzählers’, der wechselnde Standpunkte vertritt, weicht Kleist entschieden von den Erzählnormen seiner Zeit ab. Und gerade in dieser Abweichung von den Erzähl- und Lesegewohnheiten seiner Zeit zeigt sich die verblüffende Modernität der Novelle.